Fahrassistenzsysteme
Technik, Funktionsweise und Bedeutung für Verkehrssicherheit und Schadensbewertung
Fahrassistenzsysteme haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten von optionalen Komfortfunktionen zu sicherheitsrelevanten Kernbestandteilen moderner Kraftfahrzeuge entwickelt. Während Fahrzeuge früher weitgehend mechanisch geprägt waren, basieren heutige Systeme auf einer engen Vernetzung aus Sensorik, Steuergeräten, Aktorik und Software. Ziel dieser Systeme ist es, den Fahrer in bestimmten Fahrsituationen zu unterstützen, ihn vor Gefahren zu warnen oder im Notfall aktiv in das Fahrgeschehen einzugreifen. Der steigende Automatisierungsgrad führt nicht nur zu einer Veränderung des Fahrverhaltens, sondern auch zu neuen Herausforderungen in der Unfallanalyse, der Schadenbewertung und der gutachterlichen Beurteilung von Kraftfahrzeugen nach einem Unfallereignis.
Grundlagen der Fahrassistenzsysteme
Fahrassistenzsysteme lassen sich grundsätzlich in passive, aktive und teilautomatisierte Systeme einteilen. Passive Systeme greifen nicht direkt in das Fahrgeschehen ein, sondern informieren oder warnen den Fahrer. Aktive Systeme wirken durch Bremsen, Lenkung oder Antriebssteuerung unmittelbar auf das Fahrzeug ein. Teilautomatisierte Systeme kombinieren mehrere Assistenzfunktionen und übernehmen zeitweise Aufgaben des Fahrers, ohne diesen vollständig zu ersetzen.
Die technische Basis bildet eine Vielzahl von Sensoren wie Radar, Lidar, Ultraschall, Kameras sowie Fahrzeugzustandssensoren für Geschwindigkeit, Gierrate, Lenkwinkel und Beschleunigung. Die gewonnenen Daten werden in Steuergeräten verarbeitet und mit hinterlegten Algorithmen verglichen, um Fahrsituationen zu bewerten und entsprechende Reaktionen auszulösen.
Antiblockiersystem
Das Antiblockiersystem verhindert das Blockieren der Räder während eines Bremsvorgangs. Durch die gezielte Druckregelung im Bremssystem bleibt die Lenkfähigkeit des Fahrzeugs erhalten. Das System arbeitet mit Raddrehzahlsensoren und einem hydraulischen Steuerblock. Das Antiblockiersystem bildet die Grundlage vieler weiterer Assistenzsysteme und ist seit Jahren gesetzlich vorgeschrieben.
Elektronisches Stabilitätsprogramm
Das elektronische Stabilitätsprogramm dient der Stabilisierung des Fahrzeugs in kritischen Fahrsituationen. Es erkennt ein Ausbrechen des Fahrzeugs durch den Vergleich von Soll und Ist Fahrzustand und greift durch gezielte Bremseingriffe an einzelnen Rädern sowie durch Motorleistungsreduktion ein. Ziel ist die Vermeidung von Schleudern und Kontrollverlust.
Traktionskontrolle
Die Traktionskontrolle verhindert das Durchdrehen der Antriebsräder beim Beschleunigen. Sie arbeitet eng mit dem Antiblockiersystem und dem Stabilitätsprogramm zusammen. Durch Bremseingriffe oder Leistungsreduzierung wird die Kraftübertragung an die Fahrbahn optimiert, insbesondere bei niedrigen Reibwerten.
Notbremsassistent
Der Notbremsassistent erkennt drohende Kollisionen mit Fahrzeugen, Fußgängern oder Radfahrern. Das System nutzt Radar und Kameras, um Abstände und Relativgeschwindigkeiten zu berechnen. Je nach Ausführung warnt es den Fahrer, unterstützt den Bremsvorgang oder leitet selbstständig eine Vollbremsung ein.
Abstandstempomat
Der adaptive Tempomat hält nicht nur eine voreingestellte Geschwindigkeit, sondern auch einen definierten Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug ein. Das System passt die Geschwindigkeit automatisch an den Verkehrsfluss an und kann bis zum Stillstand abbremsen. Moderne Systeme ermöglichen auch das selbstständige Wiederanfahren im Stau.
Spurhalteassistent
Der Spurhalteassistent überwacht die Fahrbahnmarkierungen und erkennt ein unbeabsichtigtes Verlassen der Fahrspur. Je nach System erfolgt eine optische, akustische oder haptische Warnung oder ein aktiver Lenkeingriff, um das Fahrzeug in der Spur zu halten.
Spurwechselassistent
Der Spurwechselassistent überwacht den Bereich neben und hinter dem Fahrzeug. Er warnt vor Fahrzeugen im toten Winkel und unterstützt den Fahrer beim sicheren Spurwechsel. In erweiterten Ausführungen kann das System einen Spurwechsel aktiv verhindern.
Verkehrszeichenerkennung
Die Verkehrszeichenerkennung erfasst mithilfe von Kameras Geschwindigkeitsbegrenzungen, Überholverbote und andere relevante Verkehrszeichen. Die Informationen werden dem Fahrer angezeigt oder zur Anpassung anderer Assistenzsysteme genutzt.
Müdigkeitserkennung
Die Müdigkeitserkennung analysiert das Lenkverhalten, die Fahrzeit und weitere Parameter, um Anzeichen von Ermüdung zu erkennen. Bei Bedarf fordert das System den Fahrer zu einer Pause auf.
Einparkassistent
Der Einparkassistent unterstützt den Fahrer beim Einparken durch akustische Signale, Kamerabilder oder automatische Lenkbewegungen. Sensoren messen Abstände zu Hindernissen und berechnen geeignete Parkmanöver.
Rückfahrkamera und Rundumsichtsysteme
Diese Systeme verbessern die Sicht beim Rangieren. Mehrere Kameras erzeugen eine virtuelle Vogelperspektive, die das Umfeld des Fahrzeugs darstellt und Kollisionen im Nahbereich reduziert.
Berganfahrhilfe
Die Berganfahrhilfe verhindert das Zurückrollen des Fahrzeugs beim Anfahren an Steigungen. Das System hält den Bremsdruck kurzzeitig aufrecht, bis ausreichend Antriebskraft aufgebaut ist.
Totwinkelassistent
Der Totwinkelassistent erkennt Fahrzeuge im nicht einsehbaren Bereich neben dem Fahrzeug und warnt den Fahrer visuell oder akustisch.
Nachtsichtassistent
Der Nachtsichtassistent nutzt Infrarottechnik, um Personen oder Tiere bei Dunkelheit frühzeitig zu erkennen und im Display hervorzuheben.
Kreuzungsassistent
Der Kreuzungsassistent überwacht den Querverkehr an Kreuzungen und kann vor herannahenden Fahrzeugen warnen oder einen Notbremseingriff durchführen.
Stauassistent
Der Stauassistent kombiniert Abstandstempomat und Spurhaltefunktionen, um das Fahrzeug im zähfließenden Verkehr teilautomatisiert zu führen.
Ausweichassistent
Der Ausweichassistent unterstützt den Fahrer bei plötzlichen Ausweichmanövern durch gezielte Lenkeingriffe und Stabilisierung des Fahrzeugs.
Relevanz von Fahrassistenzsystemen für Unfallschäden und Kfz Gutachter
Die zunehmende Verbreitung von Fahrassistenzsystemen hat erhebliche Auswirkungen auf die Entstehung, den Verlauf und die Analyse von Verkehrsunfällen. Moderne Unfälle unterscheiden sich in ihrer Struktur deutlich von früheren Schadensbildern, da Assistenzsysteme entweder unfallvermeidend wirken oder den Unfallablauf maßgeblich beeinflussen. Für Kfz Gutachter ergeben sich daraus neue Anforderungen an Fachwissen, Diagnosemethoden und Bewertungsmaßstäbe. Nach einem Unfall ist nicht mehr allein die sichtbare Karosserie beschädigt, sondern häufig auch eine Vielzahl von Sensoren, Steuergeräten und Kalibrierkomponenten betroffen. Ein scheinbar geringer Stoß im Stoßfängerbereich kann beispielsweise Radar Sensoren, Kamerahalterungen oder Ultraschallsensoren beeinträchtigen, deren Funktionsfähigkeit für die Verkehrssicherheit essenziell ist. Gutachter müssen daher in der Lage sein, nicht nur mechanische Schäden zu beurteilen, sondern auch elektronische Fehlfunktionen zu erkennen, deren Ursachen zu analysieren und deren Auswirkungen auf die Assistenzsysteme korrekt zu bewerten. Hinzu kommt, dass viele Systeme nach einer Reparatur eine präzise Kalibrierung erfordern, die nur mit herstellerspezifischen Diagnosegeräten durchgeführt werden kann. Eine fehlerhafte oder unterlassene Kalibrierung kann dazu führen, dass Systeme falsche Informationen liefern oder in kritischen Situationen nicht korrekt reagieren. Für die Schadenkalkulation bedeutet dies einen deutlich höheren Aufwand, da neben klassischen Reparaturpositionen auch Diagnosezeiten, Kalibrierarbeiten und gegebenenfalls der Austausch teurer Sensorik berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus spielen Fahrassistenzsysteme eine zunehmend wichtige Rolle bei der Unfallrekonstruktion und der Haftungsfrage. In vielen Fahrzeugen werden relevante Daten gespeichert, etwa ob ein Notbremsassistent aktiviert war oder ob eine Warnung erfolgte. Diese Informationen können für Gutachter, Versicherungen und Gerichte von großer Bedeutung sein, um den Unfallhergang nachvollziehbar darzustellen. Gleichzeitig wirft die Technik neue rechtliche Fragen auf, etwa zur Verantwortung des Fahrers bei aktiven Eingriffen des Fahrzeugs oder bei teilautomatisierten Fahrfunktionen. Kfz Gutachter stehen somit an der Schnittstelle zwischen Technik, Verkehrssicherheit und Recht und müssen ihre Kompetenz kontinuierlich erweitern, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden. Fahrassistenzsysteme tragen nachweislich zur Reduzierung von Unfällen bei, verändern jedoch zugleich die Art der Schäden und die Komplexität ihrer Bewertung, was die gutachterliche Tätigkeit anspruchsvoller und zugleich unverzichtbarer macht.